Der französische Tänzer und Choreograf Boris Charmatz macht einen Versuchunter freiem Himmel, «un essai à ciel ouvert». 18 Tage lang bespielt er mit «Terrain» einen Teil der Landiwiese. Analog zum Schwerpunkt von Forced Entertainment 2018, haben wir ihm angeboten, einen Raum zu wählen und für die Dauer des Festivals dort ein Projekt zu realisieren. Boris Charmatz hat sich für einen Nichtraum entschieden: ein Stück Wiese, markiert vom Gerippe des Pavillons, der sonst auf dem Hauptplatz steht. Hier testet er sein neues Vorhaben: eine Kulturinstitutionohnefestes Gebäude. Der «Tanzgrund für Zürich» ist Schauplatz eines umfangreichen Programms mit regelmässigen öffentlichen Warm-ups, Vorstellungen, einem Symposium und Workshops.
Das Projekt «Un essai à ciel ouvert» von Terrain|Boris Charmatz ist während der ganzen Dauer des Festivals präsent und umfasst die folgenden Elemente:
Do 15.–Sa 31.8.
Do 15. / Fr 16.8.
Sa 17. / So 18.8.
«20 danseurs pour le XXème siècle»
Mi 21. / Do 22.8.
Fr 23.8.
Symposium «An Architecture of Bodies»
Sa 24. / So 25.8.
Mi 28.–Sa 31.8.
Mi 28.–Sa 31.8.
Mi 28.–Sa 31.8.
Sa 31.8.
So 1.9.
«étrangler le temps & boléro 2»
Ein Kleinlaster kreist an einem Metallarm über der Bühne. Am Steuer sitzt die französische Star-Filmschauspielerin Jeanne Balibar, im und um das Auto tanzt jemand − meine erste Begegnung mit Boris Charmatz. Die zweite war die Koproduktion von «enfant», einem Stück für drei grosse Maschinen, zehn Tänzer und zwanzig Kinder, mit der er in Avignon das Festival im Papstpalast eröffnet hat. Jahre später in Zürich haben wir Boris Charmatz, wie zuletzt Forced Entertainment, angeboten, einen Raum während des ganzen Festivals zu bespielen. Er wäre nicht Charmatz, hätte er sich nicht für einen Nicht-Raum entschieden: das Gerippe des Pavillons. Auf den ersten Blick mag das verwundern, auf den zweiten Blick ist es folgerichtig.
Boris Charmatz ist nicht nur ein erfolgreicher und aussergewöhnlicher Choreograf, er hinterfragt auch wie wenige andere konsequent sich und seine Disziplin. 2002 hat er am Centre national de danse in Paris Bocal eine temporäre nomadische Schule für Künstlerinnen und Künstler unterschiedlicher Genres entwickelt, die die Grundbedingungen der Tanzausbildung untersuchten. Nachdem er bei der Gründung des Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz der Universität der Kunst in Berlin mitgewirkt hatte, transformierte er 2009 das Centre chorégraphique national in Rennes in ein Musée de la danse. Damit produzierte er gleichermassen Stücke für die grossen Bühnen und wegweisende Projekte in führenden Museen der Welt.
Zürich markiert den Beginn einer neuen Phase. Er macht einen Versuch unter freiem Himmel, «un essai à ciel ouvert». Mit seinem TerrainTeam aus alten und neuen Wegbegleiter*innen begibt er sich auf die Suche nach einer neu zu gründenden ressourcenschonenden Kunstinstitution für das 21. Jahrhundert: einem Tanzhaus ohne Haus, einer Architektur der Körper. Zürich ist das Pilotprojekt für dieses Vorhaben, die Landwiese 18 Tage lang der Ort für sehr grosse und sehr kleine Vorstellungen, tägliches Public Warm-up für alle, Workshops und ein Symposium. All das stellt die Frage nach einer Zukunft und unser Gegenwart: Auf geradezu wunderbare Weise ist Charmatz’ Suche nach der Kunst ohne Haus ja auch die Frage an die Identität des Zürcher Theater Spektakels – als Festival ohne Haus im Park in temporären Gebäuden.
Wer nun Angst hat, dass es gar nicht mehr um Tanz geht, kann beruhigt sein. Als wir uns über die enormen Anforderungen von internationalen Tourneen, der Leitung einer Institution, künstlerischer Forschung und dem restlichen Leben unterhalten haben, habe ich vorsichtig vorgeschlagen, dass er weniger selbst mit den Arbeiten reist und tanzt. Die Antwort war ganz einfach: «Aber Matthias, ich muss tanzen, ich bin doch ein Tänzer!» (mvh)
ZÜRICH.
Notizen von Boris Charmatz
«Ich habe letztes Jahr im August eine Woche am Theater Spektakel verbracht. Ich kam mit radikalen Ideen der Transformation und einem grossen Willen zur Veränderung (…), um das Festival zu modifizieren, zu bewegen, zu erschüttern. (…) Doch dann wurde ich weich. Ich ging jeden Tag schwimmen, ich sah Aufführungen und spielende Kinder am See, Stand-up-Paddler, Strassenmusiker und Kunstschaffende aus aller Welt. (…) Für einen Moment hatte ich den Eindruck, dass gar nichts geändert werden müsse. Ich fühlte mich wohl.
Mein Vater wurde vor dem nationalsozialistischen Wahnsinn gerettet von einer Zürcher Pastorenfamilie, die ihn während mehrerer Jahre aufnahm. Ich bin in Savoyen zwischen Seen und Bergen geboren, ich fühle mich besonders wohl, wenn ich meine Kunst machen und gleichzeitig auf dem Land, in dieser Landschaft sein kann. (…)
Doch wenn man einige Zeit am Festival verbringt, beginnt man sich zu fragen, wie man den Gegensatz zwischen der Aussenwelt und den temporären Theatern aufbrechen kann. Den Gegensatz zwischen natürlichem Licht, freien Shows, Picknicks und dem See auf der einen Seite und den Black Boxes, den Scheinwerfern und den bezahlten Vorstellungen auf der anderen Seite. Ich wollte die freie Natur geniessen, ihre Gefahren, das Wetter. Ich wollte mich den invasiven Geräuschen der Strassenkunst und der schreienden Kinder stellen. (…) Ich wollte ein Stück Rasen!
In gewisser Weise ist es absurd, ein Theater anzubieten, das kein Dach und keine Wände hat, wenn wir direkt nebenan geschützt auftreten könnten. Aber Kunst ist manchmal mehr ein Wildniscamp als eine Luxusoper. Lasst uns die Architektur von soliden Institutionen durch unsere menschliche Architektur ersetzen: Ist es nicht genau das, was das Spektakel ausmacht? Wir freuen uns darauf, hierherzukommen und das Licht zu geniessen: Wenn die Wetterbedingungen gut sind, wird es unvergesslich, wenn ein Gewitter kommt, legendär.»
Konzeption | Boris Charmatz in Zusammenarbeit mit Martina Hochmuth, Matthias von Hartz und Rabea Grand |
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Konzept Licht | Yves Godin |
Technische Leitung | Fabrice Le Fur |
Produktion | Terrain |
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Unterstützung Terrain | Ministère de la Culture, Direction générale de la Création artistique Région Hauts-de-France |
Assoziationen | Terrain| Boris Charmatz ist assoziiert mit der Opéra de Lille, le phénix − scène nationale valenciennes und Maison de la Culture Amiens. Boris Charmatz ist von 2018 bis 2021 assoziierter Künstler von Charleroi danse, Belgien |
Koproduktion
Das Projekt wird am Zürcher Theater Spektakel grosszügig unterstützt von Swiss Re, der Ernst Göhner Stiftung und der Elisabeth Weber-Stiftung